SUCHSPIEL MIT PELEWIN ,2000

SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Dschungel

Produktion: 06.11.-01.12.2000, Studio 7, BAD, 09.00 – 16.45

Redaktion: Katrin Zipse

Regie: Ulrich Lampen

Sendung: 20.12.2000 Zeit: 14.05 Uhr

SUCHSPIEL MIT PELEWIN

Ein russischer Schriftsteller im Cyberspace

Von Viktoria Balon

Deutsche Bearbeitung: Olga Fidor

Besetzung:

Autorin:

Sprecher 1: Sprecher 2: Sprecher 3: Sprecherin 4:

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10-Ton (Übersetzer Andreas Tretner) Er ist ein Spieler, ein durchaus

postmoderner Autor. Daß er tatsächlich diese Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion gern verschiebt, oder vielfältig gestaltet oder labyrinthisch gestaltet, so wie Computerspiele aufgebaut sind.

Autorin Andreas Tretner, übersetzt Pelevin ins Deutsche.

0-Ton (Tretner) Er spielt auch gern Fantasy-Spiele und Adventure-Spiele, kennt sich

da gut aus. Das sind so Ebenen, die ihn interessieren, wenn sich labyrinthische Situationen ergeben, und der Leser nicht mehr genau weiß, wo die Grenze zur Wirklichkeit ist oder wo die Mystifikation anfängt. Das tut er dann auch in außerliterarischen Zusammenhängen. Bei Interviews zum Beispiel. Ich war Zeuge, daß er den Leuten erzählt hat, daß seine Mutter Prostituierte in Odessa war und daß seine Kindheit im Gefängnis demzufolge ablief. Dann hat es sogar schon bis auf Klappentext einer französischen Ausgabe gefunden, daß er Flugzeugingenieur für die Baugruppe Moskitoschutz bei den Flugzeugtriebwerken war, und deswegen die Insekten gut kennt und dieser Roman „Aus dem Leben der Insekten“ daraus hervorgegangen ist. Völliger Quatsch, dies er unwahrscheinlich gern erzählt, um auf eine sehr originelle Art kundzutun, daß den Leser eigentlich die Person des Autors nichts angeht.

Autorin Viktor Pelewin begegnet seinem schlagartigen und überwältigenden

Erfolg als Autor, indem er sich versteckt. Es wird erzählt, dass er seine Sonnenbrille nie absetzt, seine Fotos erst nach umständlicher Computerbearbeitung publizieren lässt, äußerst selten Interviews gibt und sich

2 prinzipiell von Journalisten fernhält. Am liebsten kommuniziert er über das Internet.

Sprecher 1: www.israel.ru/murena/pelevin.html

Autorin Unter dieser Adresse befindet sich ein Internet-Orakel. Es verwendet Zitate

aus der Online-Version des Romans „Buddhas kleiner Finger“ von Viktor Pelewin. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat.

Sprecher 2 „Sag mal, du träumst wohl nicht zufällig von der Klapsmühle. Denkst du, es macht für mich einen Unterschied, wie ich in den Notizen heiße, die du dir im Traum machst?“

Autorin – lese ich, nachdem ich meine – geheime- Frage gedacht habe. In der

virtuellen Realität ist es wie im Traum: jede Zufälligkeit kann zu einem Zeichen werden und mit Hilfe von jeder Zeile kann man wahrsagen. Ich nehme das Orakel als quasi-Erlaubnis, auf meine Art nach Viktor Pelewin zu suchen. Ich starte ein Suchspiel. Das Spielfeld: Die virtuelle Welt. Die Spielelemente: e-mails, Interviews und Pelewins Texte.

Sprecher 1 LOADING

Sprecher 2 „Das Spiel hat viele Ebenen. Von den unteren kann man nach oben aufsteigen, und von den höheren hinunterfallen.

2Autorin Zitat aus Pelewins Erzählung „Prinz der Staatlichen Planungsbehörde“.

3 3

Sprecher 2: Dabei wechseln Korridore und Fallen, aber alles bleibt beim alten: das

Männchen läuft zwischen Steinplatten, Fackeln, Schädeln auf dem Boden und Zeichnungen an den Wänden hindurch. Ziel des Spiels ist es, auf die oberste Ebene zu gelangen, wo die Prinzessin wartet. Um Erfolg bei diesem Spiel zu haben, mußt du vergessen, daß du auf die Tasten drückst, und selbst zu diesem Männchen werden, denn nur dann bekommt es den Grad der Geschicklichkeit, den es braucht, um über die herabfallenden Platten zu laufen, von denen jede das Gewicht des Körpers nur eine Sekunde lang aushalten kann, obwohl das Männchen ja gar keinen Körper hat und schon gar kein Gewicht, genauso wenig wie die herabfallenden Platten selbst, egal wie überzeugend der Krach zu sein scheint, den sie im Fallen von sich geben.“

Sprecher 1 LEVEL 1 is loading now!

e-mail

von Desertir

Betreff: Belletristik

Sprecher 3 „Was Dein Interesse für Pelewin betrifft, so teile ich es nicht.

Keine beeindruckenden Figuren, lauter Ideen, die schon seit ewig in unserer Szene kursieren. Und seine Popularität ist die eines Sportlehrers, der es so gut wie kein anderer Lehrer versteht, Witze mit Jungs zu machen. Das ist keine Literatur, sondern Belletristik.“

Autorin: Diese e-mail ist von einem meiner Bekannten, einem Moskauer Szene-

Menschen. Wie jeder Kult-Schriftsteller hat Pelewin nicht nur eifrige Anhänger sondern auch aktive Gegner. Die russische Literaturkritik beurteilt ihn in der

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Regel eher negativ. Extra für ihn hat sogar jemand ein in der russischen

Sprache schauerlich deutsch klingendes Schimpfwort erfunden „Bestsellermacher“.

0-Ton (Tretner) Es ist vielleicht ein schiefer Blick, dass man immer wieder Pelewin mit Kriterien „höheren“, „hohen“ Literatur beizukommen versucht. Er bedient sich der Mittel aus Trivialliteratur und das ganz mit Absicht. Bei ihm wird in den Dialogen — und das merkt man als Übersetzer sehr schnell — gnadenlos mit den Schultern gezuckt. Alle drei Seiten zuckt einer mit den Schultern, und man kann sich überlegen: soll man jetzt irgendwie tilgen, damit es den Leuten nicht auf den Wecker fällt. Ein Deutschlehrer würde vielleicht „Wiederholungszeichen“ an den Rand schreiben, wenn es ein Aufsatz wäre. Im Trivialroman, im Kriminalroman, auch in dem guten, spannenden, oder was immer Gutes solche Genres ausmacht, stört es überhaupt keinen Menschen. Und man darf nicht mit einer falschen Elle arbeiten. Seine Stärken sind nicht in der Stilistik, sie liegen ganz woanders.

Autorin Diese anderen Stärken von Pelewin wollen nicht alle erkennen: Die elitären

Postmodernisten beschimpfen ihn, weil in seinen Büchern Begriffe wie Gut und Böse vorkommen und humanistische Ideale vertreten werden. Die Konservativen klagen ihn dafür an, daß seine Bücher —so hat es ein Rezensent formuliert — wie ein Computervirus das kulturelle Gedächtnis Rußlands zerstörten.

Seine Anhänger hingegen, die sich hauptsächlich im Internet treffen, sind der Meinung, daß Pelewin den russischen Leser für die russische Literatur zurückgewonnen hat. Und schließlich brauche ein Autor, von dessen neuem

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Roman in Rußland schon eine Viertelmillion Exemplare verkauft wurden, keine Verteidigung.

0-Ton Slava (auf Russisch) darüber

Sprecher 3 Ich weiß nicht, warum manche ihn für einen Phantasten halten,

Autorin: Slava, Programmierer und Übersetzer aus dem Tibetischen ins Russische

0-Ton Slava darüber

Sprecher 3 er ist doch sehr realistisch und schreibt über die Menschen aus meinem Umfeld beinahe biographisch. Natürlich gefallen mir solche Bücher, weil sie etwas mit mir zu tun haben.

Autorin Auch im Westen hat Pelewin einen sehr guten Ruf. Und in Japan. Es hat ein

bißchen gedauert bis er in Deutschland entdeckt wurde, aber mittlerweile sind hier fünf Bücher erschienen. Zum Durchbruch in Amerika verhalf eine Aktion des Starfotographen Richard Aiden, der in der Zeitschrift „New Yorker“ Fotos von den besten europäischen Autoren unter 35 veröffentlicht hatte. Pelewin war darunter.

0-Ton (Tretner) Auffällig ist, daß Pelewin sich auf keinen weder lebenden noch toten russischen Autor bezieht. Wer Texte von ihm gut kennt, merkt zum Beispiel einen Zusammenhang mit Marquezschem Realismus oder mit Borges. Borges ist ein offenbar wichtiger Autor für ihn. Überhaupt ist er sehr belesen und sehr viel Weltliteratur hinter sich hat und sich in diesem Raum bewegt, ohne sich dezidiert an irgend jemanden anzulehnen, oder an jemanden anderes zu beziehen, als normale literarische Allusionen,

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Anspielungen. Aber Borges ist ein Autor, der mit diesen Ebenen, den Grauzonen zwischen Literatur und Wirklichkeit arbeitet, Mystifikationen, die heraus hervorgehen, das sind die Stellen — auch ein Wandel, eine Transformation, diese Fantasy-Ebene, das sind Dinge, die diese zwei Autoren aus so verschiedenen Generationen, aus so verschiedenen Kulturen, doch sehr aneinander annähern. Und da kann man seinen Spaß haben, das zu vergleichen.

0-Ton Anja (auf Russisch) darüber:

Sprecherin 4 Er ist populär, weil er sehr gut fühlt, was in Rußland passiert und Texte schreibt, die die Leute geil finden.

Autorin Anja, Soziologin aus Moskau

0-Ton Anja darüber:

Sprecherin 4 Das, was er zu sagen hat, ist kein leeres Geschwätz, sondern etwas, was Leute mindestens zum Durchhalten motivieren kann. Er zeigt, daß wir noch nicht ganz im Arsch sind, daß jeder von uns im Grunde toll und auserwählt ist. Jeder will auserwählt sein. Und er gibt uns die Möglichkeit, das zu spüren.

Autorin www.zhurnal.ru/index.shtml

Sprecher 1 Chat-Interview mit Pelewin

Sprecher 3 Karlsson an Pelewin:

Die Leute scheinen mir an Identifikation zu verlieren, an Orientierungen, Polen, Koordinatensystemen …

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7Sprecher 2 Pelewin an Karlsson:

Das ist ein sehr guter Prozess – der Verlust der Koordinaten. Denn letztendlich kommt der Mensch darauf, dass das einzige Koordinatensystem er selbst ist. Ich glaube, ich habe kein festes Bild von mir selbst, aber das zu sagen bedeutet gleichzeitig schon, sich eines zu machen. Also ist es besser, aufzuhören, über dieses Thema überhaupt nachzudenken.. Wie Buddha

da

sagte, wo ein Gedanke ist, dert-ist ein Problem, kein Gedanke – kein

Problem.

Autorin Wie kann überhaupt noch von Identität die Rede sein, wenn doch jeder Held

Pelewins zugleich jemand anderes ist: der Philosoph – ein Hähnchen, der Student – ein Werwolf, die Ameise – ein Marineoffizier, Lenin – ein Haufen Limonadeflaschen, der Angestellte der staatlichen Planungsbehörde – ein Prinz aus dem Computerspiel?

Und der Autor – mal 33 Jahre alt, mal 40, je nach dem Klappentext auf seinen Büchern.

Sprecher 1 LEVEL 2 is loading now! e-mail

Von Nika

Betreff: Fernsehen

Sprecherin 4 Hiermit schicke ich Dir Pelewins Telefonnummer. Der gute Mann ist aber bekanntlich ein eigenartiger Typ und geht nicht immer ans Telefon, sei also darauf gefaßt, daß Du erstmal nur den Anrufbeantworter dran hast und etwas sehr Überzeugendes sagen mußt, damit er sich überhaupt zurückmeldet. Als ich ihn erreichen wollte, dauerte das sehr lange, um so mehr, als Herr Pelewin

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gerade für einige Zeit ein Schweigegelübde abgelegt haben sollte. Nicht umsonst, denn er ist ein ziemlicher Schwätzer, und wenn er erst mal ins Reden kommt, dann halt Dich gut fest.

Ich schreibe dies in Eile und kann mich deshalb über meine Arbeit beim Fernsehen auch nicht lange auslassen; dafür habe ich für dich ein Plakat eingescannt, das bei uns im Studio des Nachrichtenprogramms „Sevodniacko“ hängt:

„Achtung! Achtung!

Für Korrespondenten, die zu Nachteinsätzen ausfahren!

Letzte Warnung!

Es ist streng verboten; Leichen länger als drei Sekunden im Großformat zu zeigen.

Und noch strenger ist es verboten, Umgekommene, Gestorbene, Tote, Umgebrachte, Verbrannte, Erstickte etc. zu verunglimpfen.

Streng verboten ist es auch, zynische Fragen mit fröhlicher Stimme zu stellen, wenn gerade eine tragische Geschichte gedreht wird!“

Autorin Das ist ein echtes Dokument, das gut in Pelewins neuen Roman „Generation

P“ passen würde. Dort geht es um das russische Fernsehen mit seiner äußerst zynischen und aggressiven Moderation. Der Romanheld, der ursprünglich Schriftsteller werden wollte, wird Autor von Werbespots und paßt westliche Werbung der russischen Mentalität an:

Sprecher 2 Am meisten fasziniert war Tatarski jedoch von einer exakt quadratischen schwarz-rot-gelben Packung mit deutschem Wappenadler und der Aufschrift „S/CO“.

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Es hatte etwas von einer kleinen Standarte und gefiel Tatarski so sehr, daß er zwei davon kaufte. Auf der Rückseite der Verpackung stand zu lesen: Beim Erwerb von „Sico“-Präservativen können Sie auf traditionelle deutsche Wertarbeit und Gütekontrolle vertrauen.

Autorin Zitat aus“Generation P“

Sprecher 2 Das ist schlau! dachte Tatarski. Sehr schlau! Einige Minuten reflektierte er über dieses Thema und bastelte an einem Spruch. Am Ende stand der gesuchte Satz klar und deutlich vor ihm. „Sico. Ein Porsche in der Welt der Präser“.

Autorin Im russischen Original steht übrigens anstelle von Porsche BMW. Und das ist

nicht die einzige Stelle, an der der Text bei der Übersetzung verändert wurde.

0-Ton (Tretner) Es gibt z.B. diese großartige Szene, wo der Held des Buches

„Generation P“ ein Skript zu schreiben hat für eine simulierte Begegnung des russischen Oligarchen Berezovskij mit dem tschetschenischen Anführer Raduev. Dort ist die Rede von einem in Deutschland wenig bekannten Reinigungsmittel namens „Tide“ und einem Slogan der daraus hervorgeht. Mit der schon im Hinterkopf arbeitenden Werbemaschine bei diesem Helden. Die Maßgabe des Autors für mich ist: Es muß alles für den deutschen, den europäischen Leser top-verständlich sein und gnadenlos ändern und streichen, was nicht geht. Dann haben wir halt beschlossen von „Tide“ auf Meister Proper zu gehen …. Und so ist der „Meister Proper“ der dritte im Bunde mit Berezovskij und Raduev. Das finde ich ziemlich witzig.

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10Autorin Das Hauptthema des Romans ist jedoch weder das Fernsehen, noch die

Werbung, noch computersimulierte Politiker und Oligarchen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern das Schicksal der Generation „P“ „P“ wie „Pepsi-Cola“, dem ersten westlichen Artikel, den es zur Zeit ihrer Kindheit in den 70ern in der Sowjetunion gab — schwarze Limonade hieß das damals.

0-Ton (Tretner) Daß Pelewin sehr viele Leser hat, vor allem in der Generation, wo

nicht sehr viel gelesen wird, sondern viel mehr am Computer gesessen wird, das ist richtig. Aber das hat mehr damit zu tun, daß er a) zu dieser Generation gehört, und b) daß er eben eine bestimmte Weitsicht hat, eine Wahrnehmungsweise, die auch durch Computer geprägt ist, und durch die Computerspiele, aber auch durch die Wirklichkeit, wie sie heute ist und die ja halt darauf schon längst reagiert. Dies ist ein Hin und Her, wo man lange nicht mehr sagen kann, wo das Huhn und Ei ist und was zuerst da war. Zum Beispiel es gibt in dem letzten Roman ein Motiv, das er — ich finde auf relativ grandiose Art und Weise — parodiert, indem er den Geist von Che Guevara da auf pseudoparapsychologische Weise anruft: „Che Guevara, bitte, kommen!“ Er bekommt da beinahe eine medienkritische Theorie des Zappens, des ständigen Kanalwechsels, und das ist natürlich eine Art und Weise der Weltwahrnehmung, die ist sehr verbreitet und wird sehr beklagt von den konservativen Medienkritikern. Und hat er auch drin. Und er sagt: Das ist eigentlich der wahre Realismus. Wenn man heutzutage, was früher Realismus hieß, so kann man heute auch noch schreiben, aber es ist dann Nostalgie.

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Sprecher 2 „Der orale VVow!-Impuls regt die Zelle an, Geid zu schlingen, um das Leiden am Konflikt zwischen dem Selbstbild einerseits und dem von der Werbung erzeugten Idealbild, dem Über-Ich, andererseits aus der Welt zu schaffen.

Autorin Zitat aus einem Vortrag, den der Geist Che Guevaras über die Mechanismen

hält, durch die der Mensch in eine primitive Zelle namens „Oranus“ oder „Lochfraß“verwandelt wird.

Sprecher 2 Der anale Wow!-Impuls regt die Zelle zur Ausscheidung von Geld an, was die lustvolle Verschmelzung der oben erwähnten Bilder bewirkt. Der verdrängende Wow!-Impuls wirkt wie ein Störsender, der unerwünschte Radioprogramme mit kräftigem Rauschen überlagert. Auf den Punkt gebracht, ist seine Wirkung in Volksweisheiten wie „If you are so clever, show me your money!“ (Wenn du so ein Schlaumeier bist, kannst du mir ja mal deinen Bankauszug zeigen). Ohne diesen Impuls wäre der Oranus gar nicht fähig, die Menschen als Zellen für sich zu rekrutieren“

0-Ton Slava (Russisch) darüber

Sprecher 3 In „Generation P“ ist die sogartige Moskauer Realität beschrieben, die Welt der Werbung: wie sie den Menschen, der vielleicht ursprünglich nach etwas Höherem, Hellem und Reinem strebte, in ihren Bann zieht, wie sehr er ihr auch zu widerstehen versucht. Alle Mechanismen dieses Prozesses, alle Wow-Impulse sind sehr gut dargestellt. Es ist ein hochaktuelles Werk. Ein Mensch, der in Moskau oder in einer ähnlichen Großstadt lebt, befindet sich unter dem Druck dieser Faktoren, oft ohne sich dessen bewußt zu sein. Ich sehe, daß sich die Menschen aus meinem Umfeld alle mit diesem Phänomen

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herumquälen und versuchen einen Ausweg zu finden. Pelewin hat das sehr gut auf den Punkt gebracht.

Autorin Verzweifelt wegen der Leere seines Lebens und unter dem Einfluß einer

Überdosis LSD wirft sich der Held auf die Knie und versucht zu beten. Aber in seinem Kopf drehen sich nur Werbetexte. Und es entsteht ein Slogan für Gott:

Sprecher 2 „Jesus Christus — ein solider Herr für solide Herren“.

Autorin Und danach lässt Tatarski den Stift fallen, richtet die verweinten Augen zur

Decke und fragt:

Sprecher 2 Herr, mein Gott, gefällt es dir?

Autorin www.sharat.co.il/zhurnal/voprosy.html

Sprecher 1 „Fragen an Viktor Pelewin“:

Sprecher 3 Danke, daß Sie alles geschrieben haben, was ich schon immer sagen wollte, nur besser.

Autorin www.cdru.com/kuznet

Sprecher 1 Chat-Interview mit Pelewin

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Sprecher 3 Auf Grund der Tatsache, daß Pelewin den Jargon der modernen russischen Neureichen meisterhaft beherrscht, entstanden Gerüchte, daß er ein Netz von Einzelhandelskiosken unter seiner Kontrolle habe und überhaupt ein großer Bandit geworden sei.

Sprecher 2/Pelewin Wenn schon ein großer Bandit, warum dann nur Kioske? Dann doch lieber gleich die Kommerzbanken, Obwohl, in der Tat habe ich doch sowieso

diese ganze Welt unter Kontrolle, das heißt, die Banken auch…

Sprecher 1 LEVEL 3 is loadinq now

e-mail von: Vlad

Betreff: Buddhismus

Sprecher 3 Leider ist der Mensch (Ljoscha), der uns mit Pelewin verbinden könnte, im

Moment nicht aufzutreiben, da er kein Telefon hat, und ich nicht weiß, wo er wohnt. Den einzigen Kontakt mit ihm hatte ich über den Tibetisch-Kurs, in dem jetzt Ferien sind… Ich habe gehört, daß Pelewin zur Zeit bei Euch in der Nähe von Berlin sitzt, auf einer Datscha, und ein neues Buch schreibt…

Autorin Die grenzenlose Phantasie Pelewins gebiert die unwahrscheinlichsten Sujets:

eine alte Schamanin holt die im Krieg gefallenen deutschen Soldaten aus dem Jenseits zurück, um russische Frauen ins Ausland zu verheiraten; ehemalige Parteifunktionäre wechseln ihr Geschlecht, um auf den Strich zu gehen… Aber das Unwahrscheinlichste gelang dem Schriftsteller mit Tschapajev und Pustota aus dem Roman „Buddhas kleiner Finger“: er verwandelte die beiden

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Helden unzähliger russischer Witze in buddhistische Philosophen und versah die Witze so mit einem tiefen mystischen Sinn.

Autorin www.zhurnal.ru/index.shtml

Sprecher 1 Chat-lnterview mit Pelewin

Sprecher 3 <paravozov> an Pelewin:

Kommt es Ihnen nicht so vor, als erinnerte das Ende von „Buddhas kleinem Finger“ an irgendeine amerikanische Happy-End-Banalität?

Sprecher 2 <Pelewin> an paravozov:

Na, in einem solchen Fall kann ich nur sagen: wenn Sie etwas mit Blut; mit Fleisch usw. wollen, experimentieren Sie bitte mit sich selbst. Meiner Meinung nach ist ein Happy End das beste, was es überhaupt geben kann, sowohl in der Literatur als auch im Leben. Im Prinzip strebe ich immer ein Happy End an. Die Sache ist nämlich die, daß die Literatur in hohem Maße das Leben vorprogrammiert, jedenfalls das Leben dessen, der schreibt. Ich habe das mehrmals erlebt und werde deshalb in Zukunft zehnmal überlegen, bevor ich irgendeine zweitrangige Figur irgendwohin schicke.

Autorin Ausgehend von der Instabilität, der Virtualität der Wirklichkeit, in der wir leben,

modelliert Pelewin immer wieder neue Welten und erzählt alternative Versionen der russischen Geschichte: zum Beispiel, daß die Perestrojka infolge mystischer Übungen der Putzfrau Vera Pavlovna entstanden sei, die nach ihrem Tod in Tschernyschewskis Roman „Was tun?“ verbannt wurde. Oder, daß an allen russischen Katastrophen ein unter dem Ostankino-

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Fernsehturm schlafender babylonischer Hund mit dem russischen Namen „Pizdec“ schuld sei. Letzteres ließ sich übrigens im Zusammenhang mit dem jüngsten Brand wie eine düstere Prophezeiung auffassen.

Allerdings erweisen sich die Doppelwelten, die sich hinter der falschen Fassade des Lebens eröffnen, ebenfalls als unecht …

Hinter all dem verbirgt sich eine besondere Weltanschauung. Pelewins Bücher sind nicht einfach Phantasy und Satire. Noch zu sowjetischen Zeiten übersetzte er Carlos Castaneda und bis heute zeigt er ein großes Interesse für «veränderte Bewußtseinszustände», seien es durch Drogen hervorgerufene Halluzinationen, oder virtuelle Erscheinungen oder die Ergebnisse einer mystischen Suche.

0-Ton Anja (Russisch) darüber

Sprecherin 4 Alle sind jetzt verrückt nach verschiedenen Religionen. Tatsächlich steht dahinter der Wunsch, sich irgendeine Struktur zu schaffen, sich wie ein Mensch zu fühlen und nicht wie ein Tierchen im Laufrad, das rennt und rennt und froh sein muß, wenn ab und zu ein bißchen Geld dabei herauskommt. Pelewin hat sehr gut erkannt, daß niemand mehr Lust hat, so eine erbärmliche Tierchenexistenz fortzusetzen.

Autorin: Wie vielfältig die in Pelewins Büchern dargestellten mystischen und

psychedelischen Versuche der Russen auch sein mögen, Pelewin selbst ist Buddhist. Das ist so hinreichend bekannt, wie über ihn überhaupt etwas Verbindliches gesagt werden kann. Und hier bewegen wir uns auf der höchsten, letzten Ebene des Spiels, der kompliziertesten, mit vielen Fallen und Hindernissen, von der man nur allzu leicht in die Banalität herabfallen kann. Oder ist es vielleicht gerade die tiefste, heimliche Ebene, auf der das

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Spiel programmiert wird und wo das geheimnisvoll-runenartige Gekritzel der Programmierer sichtbar wird?

0-Ton (auf Deutsch) Vera: Was hätte sonst in Rußland sein können? Die

Orthodoxie ist bei vielen Menschen wieder populär geworden aber leider die orthodoxen und rechten Gedanken gehen in modernem Rußland etwas nah beieinander

Autorin Vera, Slawistin aus Berlin

0-Ton (Vera) Es gibt auch kaum Alternative. Ein Atheist zu sein ist in Rußland

überhaupt nicht in, weil es zu sehr mit sozialistischer Vergangenheit verbunden ist. … Es bleiben entweder irgendwelche indianische Glauben oder Buddhismus. Und die Indianer sind ein bißchen weiter als Buddhisten…

0-Ton Slava (Russisch) darüber

Sprecher 3 Ich fand in seinen Werken keine Abweichungen vom buddhistischen Kanon. Was mich bei Pelewin positiv überrascht hat, ist seine Tiefe, wenn er so feine Aspekte berührt, wie die Zeit oder den Begriff der Leere. Soweit mein Bildungsniveau für ein Urteil ausreicht, kann ich keine Fehler erkennen. Und überhaupt, vom buddhistischen Standpunkt aus scheint er mir ein Bodhisatva zu sein. Bodhisatva ist heute jemand, der das Wort Buddhas an die modernen Bedingungen anpaßt und dadurch die Menschen erreicht, ihnen Antworten auf ihre aktuellen Fragen gibt, und nicht die alten verstaubten Bücher.

Sprecher 2 „Das täte den amerikanischen Zionisten so passen. Dafür haben sie ja eurer ganzen Generation die Hirne verkleistert…

17Autorin Aus dem Roman „Buddhas kleiner Finger“. Ein Dialog im Taxi:

Sprecher 2 So zu tun, als glaubte man nicht an die Realität- das ist die billigste Art und Weise, sich dieser Realität zu entziehen. Die armseligste, wenn du’s genau wissen willst… Und deshalb zeugt alles Palavern darüber, daß die Welt eigentlich nicht existiert, nicht von edlem Geist, sondern eher vom Gegenteil. Wer an die Schöpfung nicht glaubt, beleidigt den Schöpfer.“

„Was meinen Sie mit edlem Geist?“ fragte ich. „Und was den Schöpfer des Universums angeht- mit dem bin ich flüchtig bekannt… Er heißt Grigori Kotowski und wohnt in Paris, und wenn ich so aus Ihrem schönen Wagenfenster gucke, muß ich annehmen, daß er immer noch kokainsüchtig

Autorin In Pelewins Werken werden jede Menge Drogen konsumiert und es gibt

beeindruckende Beschreibungen psychedelischer Erfahrungen. Aber er ist kein russischer Timothy Leary. Fragen nach eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet weist er aufs schärfste zurück. Offensichtlich betrachtet er Drogen nicht als Passierschein für höhere Sphären, sondern eher als Weg durch die Hintertür, der ins Nichts führt. Aber gerade hier, scheint mir, ist die Wahrscheinlichkeit, einen Zugang zu Pelewin finden, am höchsten — im Spannungsfeld zwischen dem Buddhismus, den veränderten Bewußtseinszuständen und der postsowjetischen Realität, oder, wenn man so will, der Irrealität der postsowjetischen Epoche.

170-Ton Siava darüber

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Sprecher 3 Die russische Generation „P“ ist interessant, weil sie eine

Übergangsgeneration vom Sozialismus zum Kapitalismus ist. Ausgerechnet uns wurde diese Rolle zuteil, die sich mit der Situation des Buddha Shakjamuni vergleichen läßt: Er lebte zuerst in einem künstlichen Milieu, vollständig umsorgt und beschützt, bis er ins Leben geworfen wurde und erst dort gezwungen war, die Erleuchtung zu erreichen. Unter dem Sozialismus waren wir alle beschützt und wurden dann unsanft in die kapitalistische Realität hinausbefördert. Und genau das ist unser Vorteil gegenüber den Generationen, die nur in einem einzigen System großgeworden sind. Es verhält sich wie mit den Drogen. Unter Drogen entsteht eine andere Illusion, als in der nüchternen Existenz, und es ist keinesfalls so, daß die eine besser ist als die andere. Wenn der Mensch die Flexibilität der Welt sieht, und erkennt, daß in ihr viele Varianten möglich sind, so kommt er bezüglich dieser Welt auf verschiedene Gedanken. An sich ist jedoch weder das eine noch das andere System wirklich wertvoll. Weder Sozialismus noch Kapitalismus haben etwas Gutes an sich. Aber daß eine ganze Generation in einer Übergangszeit großgeworden ist, gibt ihr eine gewisse Chance. Wichtig ist jedoch die Erfahrung, daß die Welt, in der du lebst, nicht unbedingt mit der identisch ist, in der du nachher sein wirst. Es hat also keinen Sinn, sich daran zu

klammern, man sollte sich vielleicht andere Ziele setzen, die außerhalb dieser Welt liegen.

Sprecher 1 Game paused

e-mail

Von Viktor Pelewin

Betreff Radio

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Sprecher 2 OK, Viktoria, ich bin bereit, Ihre Fragen zu beantworten. Schicken Sie sie mir per e-mail. Wenn Sie unbedingt meine Stimme brauchen, lassen Sie einen Burschen meine Antworten vorlesen, es gibt doch viele Russen bei Ihnen in Deutschland. Ich verrate Sie nicht.

Autorin Halten Sie Ihre (unsere) Generation für glücklich?

Sprecher 2 ,,Generation“ ist ein abstrakter Begriff, und die Fähigkeit eines abstrakten Begriffes, Glück zu empfinden, kommt mir fragwürdig vor. Außerdem höre ich immer in dem Wort „Generation“ — „Altersgruppe“ eine Andeutung auf eine Gruppe Menschen, die gruppenweise alt werden und sterben. Von wegen glücklich!

Autorin: Russische Neureiche, ihr Jargon… Wodurch ist das Milieu für Sie

interessant? Oder ist es das nicht mehr?

Sprecher 2: Nicht mehr. Bald kommt anstatt der typisch neureichen Finger-Spreiz-Geste wieder das Salutieren in Mode. Oder man wird die fächerartig gespreizten Finger an die Militärmütze anlegen.

Autorin In Ihren Büchern gab es immer einen Ausweg, und in „Generation P“ gibt es

keinen. Warum nicht?

Sprecher 2 Das ist ein Buch nicht über den Ausweg, sondern darüber, was statt dessen sein kann. Hier ist der psychische Zustand beschrieben, der in der modernen Welt dominiert. Aus diesem Zustand gibt es keinen metaphysischen Ausweg, es gibt nur die Möglichkeit des Überganges in einen anderen Zustand, von

2020

dem aus sich vielleicht ein Ausweg findet. Vielleicht auch nicht. Das ist, wenn man sich der modischen U-Boot-Terminologie bedient, eine überflutete Sektion, aus der der Ausweg nur in eine andere überflutete Sektion führt. Und gerade dort haben sich alle Seeleute getroffen und teilen das Geld, das übrigens, im Jargon der Neureichen „Luft“ heißt. In der „Generation P“ gibt es keinen Ausweg, sondern seine Möglichkeit. Das Buch endet damit, daß der Held, nachdem er zu viel Fliegenpilze gegessen hat, auf einem halbfertig gebauten Lokator-Turm einschläft. Wenn er aufwacht, wird er machen können, was er will.

Autorin Man nennt sie einen buddhistischen Schriftsteller. Kann ein russischer, ein

europäischer Schriftsteller überhaupt ein buddhistischer sein?

Sprecher 2 Schriftsteller nennt sich ein Mensch, der Bücher schreibt. Ob ein Buddhist Bücher schreiben kann? Ich denke schon, Präzedenzfälle gab es.

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